Lesbierinnen

Lesbierinnen
Lẹsbi|erinnen
 
[nach der Insel Lesbos], Lẹsben, Frauen, die sexuelle Beziehungen ausschließlich oder in einem bestimmten Lebensabschnitt mit Frauen haben. Die gleichgeschlechtliche Beziehung zwischen Frauen wird auch Sapphismus, Tribadismus oder Tribadie genannt. Die Schätzungen über den Anteil lesbischer Frauen an der weiblichen Bevölkerung schwanken zwischen 2 % und 5 %; für Deutschland belaufen sie sich auf 700 000 - 2 Mio. Lesbierinnen. Weibliche Homosexualität in ihrer psychogenetischen Dimension und sozialen Ausdrucksform ist noch ungenügend erforscht. Die geringere Beachtung gegenüber der männlichen gleichgeschlechtlichen Liebe hängt u. a. damit zusammen, dass Frauen jahrhundertelang ein genuines Sexualempfinden abgesprochen wurde und Anthropologie und Sexualwissenschaft sich überwiegend mit den sexuellen Erlebens- und Verhaltensweisen der Männer befasst haben. Wenig beachtet wurden bereits um 1900 vertretene Theorien, die alle nicht auf Sozialisation beruhenden seelischen und geistigen Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestritten und von einer angeborenen Bisexualität beider Geschlechter ausgingen. Soziologische und anthropologische Untersuchungen des Lesbianismus als besondere Kultur und psychosoziale Identität erschienen verstärkt erst in den 1970er-Jahren unter dem Einfluss der feministischen Bewegung.
 
Lesbierinnen waren meist weniger als männliche Homosexuelle gesellschaftliche Ächtung ausgesetzt. Ihre Existenz wurde und wird in vielen Gesellschaften nicht zur Kenntnis genommen oder als gesellschaftlich unerhebliches Phänomen angesehen. Strafrechtliche Sanktion für lesbisches Verhalten war eher die Ausnahme. Die relative Indifferenz gegenüber weiblicher Homosexualität erklärt sich auch daraus, dass zärtliche Freundschaften zwischen Frauen in unserem Kulturkreis nicht als unweiblich gelten. Die gesellschaftliche Missbilligung gilt daher weniger den Erscheinungsformen lesbischer Liebe, als dem Umstand, dass die Lebensformen von Lesbierinnen im Widerspruch zur traditionellen Rolle der Frau als Gattin und Mutter stehen.
 
Kulturgeschichtliches:
 
Die Formen lesbischer Liebe variieren je nach historischem und kulturellem Kontext. Beispiele für gleichgeschlechtliche Orientierung von Frauen finden sich bereits in schriftlosen Stammeskulturen. Ethnologische Forschungen zufolge wurde in bestimmten frühgeschichtlichen Kulturen weibliche Homosexualität als Begleiterscheinung des Geschlechtsrollentauschs (religiös begründeter oder profaner Transvestismus) akzeptiert.
 
Die relative Verbreitung männlicher wie weiblicher Homosexualität im arabisch-islamischen Kulturkreis wird u. a. mit der dort herrschenden strikten Geschlechtertrennung in Zusammenhang gebracht. Eine singuläre Erscheinung stellt die vom frühen 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert existierende Bewegung der chinesischen Heiratsverweigerinnen im Kantondelta dar. Dabei handelte es sich meist um junge Industriearbeiterinnen, die die durch Ehe und Mutterschaft bestimmte traditionelle Frauenrolle strikt ablehnten und nach dem Gelöbnis der Ehelosigkeit in Schwesternhäusern in weiblicher Freundschafts- und Solidargemeinschaft zusammenlebten.
 
Für den europäischen Kulturkreis stellt der Begriff »lesbisch« beziehungsweise »sapphisch« die Verbindung zu den frühesten Berichten über die Liebe zwischen Frauen - dem Zentralthema der Dichtung Sapphos - her. Das Phänomen des sapphischen Eros lässt sich, analog zur griechischen Knabenliebe, nicht von seiner erzieherischen Funktion trennen. Die jungen Mädchen, die die Dichterin um sich scharte, wurden in einer erotisch-pädagogischer Lebensgemeinschaft auf ihre zukünftige Erwachsenenrolle vorbereitet, wozu neben der Unterrichtung in Kult und musischen Künsten auch die sexuelle Initiation gehörte. Obwohl Sapphos Kreis einen besonderen Rang einnahm, war das Ideal einer vom Mann unabhängigen Frauenkultur auch in anderen Kreisen auf Lesbos verankert.
 
Quellen über die Existenz Frauen liebender Frauen sind für die nachchristlichen Jahrhunderte häufig nur indirekt zu erschließen (Verbrennung von Sapphos Gedichten, Kirchenstrafen für lesbische Praktiken in Bußbüchern, Verhaltensvorschriften für Freundschaften zwischen Ordensschwestern). Eindeutige Aussagen über die Behandlung von Lesbierinnen finden sich in der Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532. Art. 116 bestimmte dafür die Todesstrafe durch Verbrennen. In Preußen existierte bis 1747 die Todesstrafe für weibliche Homosexualität. Seit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 war homosexuelles Verhalten von Frauen in Deutschland nicht mehr strafbar. Im 18. und 19. Jahrhundert waren enge emotionale Bindungen zwischen Frauen weit verbreitet, wobei die Grenzen zwischen platonischer und sinnlicher Liebe fließend waren. Die Institution gefühlsintensiver, gesellschaftlich anerkannter Frauenfreundschaften bildete eine Voraussetzung für die Entstehung einer lesbischen Subkultur, wie sie sich zunächst in Künstlerinnenkreisen und nach dem Ersten Weltkrieg in städtischen Metropolen wie Berlin, Paris und London entwickelte. Zu einer verstärkten Bewusstwerdung der spezifischen Existenzform lesbischer Frauen trugen seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Werke zahlreicher Schriftstellerinnen bei (u. a. Colette, Gertrude Stein, Djuna Barnes, Virginia Woolf, Karen Boye). Gleichzeitig traten lesbische Frauen im Zusammenhang mit der Frauenbewegung erstmals an die Öffentlichkeit. In den 1920er-Jahren wurde Berlin zu einem Anziehungs- und Fluchtpunkt von Lesbierinnen, die durch zahlreiche Organisationen, Schriften und Veranstaltungen gesellschaftlich aktiv wurden. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung verschwanden die Einrichtungen eines lesbischen Gegenmilieus aus dem öffentlichen Leben.
 
Neue Tendenzen:
 
Im Zuge der homosexuellen Befreiungsbewegung in den 70er-Jahren entstand in der Bundesrepublik Deutschland die erste »Lesbenbewegung«. Der aus den USA entlehnte Begriff des »Coming-out«, der die Bejahung der eigenen gleichgeschlechtlichen Identität vor sich selbst und der Öffentlichkeit beinhaltet, wurde zur Perspektive einer ersten inneren Befreiung. Der Gründung der ersten »Lesbengruppe« in Berlin (West) Mitte der 70er-Jahre folgte der Aufbau ähnlicher Gruppen in vielen Städten der Bundesrepublik. Aktivitätsschwerpunkte waren Öffentlichkeitsarbeit, Selbsterfahrungsgespräche, Gründung von Zeitschriften, Forschungszentren und Archiven. Die Verbindung von Lesbianismus und Feminismus in den USA hat auch die deutsche Lesbierinnenbewegung beeinflusst, die in der »Neuen Frauenbewegung« ihren wichtigsten Bündnispartner sieht. Die allgemeine Emanzipation der Frauen wird als eine Grundbedingung lesbischer Befreiung betrachtet. Umgekehrt befürworten Teile der Frauenbewegung lesbische und bisexuelle Lebensmodelle als lebbare Alternativen zu der traditionellen heterosexuellen Partnerschaft. (Frau, Frauenbewegung, Homosexualität)
 
 
I. Kokula: Formen lesb. Subkultur. Vergesellschaftung u. soziale Bewegung (1983);
 S. von Paczensky: Verschwiegene Liebe. Lesb. Frauen in unserer Gesellschaft (Neuausg. 1984);
 L. Faderman: Köstlicher als die Liebe der Männer. Romant. Freundschaft u. Liebe zw. Frauen von der Renaissance bis heute (a. d. Amerikan., Zürich 1990);
 J. G. Raymond: Frauenfreundschaft. Philosophie der Zuneigung (a. d. Engl., 21990);
 M. Barz u. a.: Lesb. Frauen in der Kirche (21993);
 M. Giebel: Sappho (24.-25. Tsd. 1995);
 
Grenzen lesb. Identitäten. Aufsätze, hg. v. S. Hark (1996);
 R. Schimmel: Eheschließungen gleichgeschlechtl. Paare? (1996).

Universal-Lexikon. 2012.

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